Die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze ist ein Theorem der historischen Sprachwissenschaft. Demzufolge verlaufen Lautverschiebungen in einer einzelnen oder in genetisch verwandten Sprachen regelmäßig, sofern sie unter bestimmten gleichen lautlichen Bedingungen stattfinden, der Lautwandel also von allen Sprechern einer Einzelsprache oder in allen genetisch verwandten Sprachen realisiert wird.
Ein Beispiel hierfür ist die erste Lautverschiebung, die die drei indogermanischen stimmlosen Verschlusslaute p, t, k betrifft, aus denen in allen germanischen Sprachen die stimmlosen Reibelaute f, θ, χ werden (vgl. lat. pater : engl. father, dt. Vater; lat. tres : engl. three ; lat. centum : dt. hundert).
Bereits der Germanist Wilhelm Scherer vertrat diese Ansicht 1875. Die Junggrammatiker Hermann Osthoff und Karl Brugmann formulierten diese These 1878 im Vorwort zu ihrem Werk Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen (Bd. 1, 1878, S. XIII) wie folgt:
- „Aller Lautwandel, soweit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach ausnahmslosen Gesetzen, d. h. die Richtung der Lautbewegung ist bei allen Angehörigen einer Sprachgenossenschaft, außer dem Fall, daß Dialektspaltung eintritt, stets dieselbe, und alle Wörter, in denen der der Lautbewegung unterworfene Laut unter gleichen Verhältnissen erscheint, werden ohne Ausnahme von der Veränderung ergriffen.“
Das Prinzip der Ausnahmslosigkeit macht – da etwa aus der Grundsprache keine Texte vorhanden sind, die man philologisch untersuchen könnte – die Historische Sprachwissenschaft zu einer reinen Naturwissenschaft, vergleichbar mit der Physik und ihren physikalischen Gesetzen.
Wo das Prinzip der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze nicht angewendet werden kann, wird das Wirken der Analogie als Erklärung angenommen. So werden Ausnahmen immer als Anpassung an bereits bestehende verwandte Formen betrachtet. Solche Vorgänge können z. B. Restitution (Wiederherstellung eines Lautes), Assimilation, Dissimilation, Harmonisierung, Imitierung, Normierung, Komplettierung, Kontaminierung, Schnellsprechform oder Abkürzung sein.
Beispiele:
Restitution: Das griechische Futur-Suffix -s- schwindet (über -h-) lautgesetzlich zwischen Vokalen, bleibt jedoch z. B. in Kontakt mit -k- und -p- (also in den Lautfolgen -ks- und -ps-) erhalten. Von dort aus wird es an den Stellen, wo es lautgesetzlich geschwunden war, wieder eingeführt und dient als allgemeines Zeichen zur Bildung des griech. Futurs.
Assimilation: Lateinische Vorsilben wie ad werden z. B. in Komposita an den folgenden Laut angeglichen, also ad-ficiō > af-ficiō ‚ich versehe mit‘. Solange noch beide Formen nebeneinander verwendet werden (Sallust z. B. schreibt immer adficiō statt umgangssprachlich afficiō), spricht man von Assimilation; wird afficiō in der Sprache dann allgemein und immer durchgesetzt, liegt ein Lautgesetz vor. Mit diesem kann man z. B. vorhersagen, dass Ägypten (lat. Aegyptus) im Italienischen zu Egitto werden muss.
Dissimilation: Ai. klóman- ‚die rechte Lunge‘ ist aus *plóman- dissimiliert (zwei Labiale werden entähnlicht), heth. lāman ‚Name‘ aus *nāman (zwei Nasale werden entähnlicht); es ist so, als würde man im Deutschen das Verb nennen zu *lennen dissimilieren.
Harmonisierung: Griech. épos ‚Wort‘ mit dem Gen. épous müsste lautgesetzlich eine Genitivform *étous (aus *ét-es-os) aufweisen; der im Paradigma dann auftretetende Wechsel -p- : -t- wird dann zu einheitlich -p- harmonisiert. In der ai. Gleichung vácas ist es umgekehrt: Dort hat sich der vor -e- palatalisierte, aus dem Genitiv stammende Laut -c- gegenüber dem „nominativischen“ -k- im ganzen Paradigma durchgesetzt.
Imitierung: Das Nasalinfix im lateinischen Verbum iungō ‚ich verbinde‘ gehört ursprünglich nicht in die zugehörigen Nominalbildungen (iugum (=) ‚Joch‘), doch kann ein Wurzelnomen wie (uspr.) con-iux ‚Gattin‘ (die Zusammengebundene) lautlich dieses Nasalinfix als Imitierung zu sich nehmen, so dass sich eine Form con-iūnx (Genitiv meist noch con-iugis) ergibt.
Normierung: Die germanischen Verben der VII. Verbalklasse erhalten, unabhängig von ihrem lautlich sehr weit voneinander entfernten Vokalismus im Präsensstamm (laufe, rate, scheide, rufe, halte) eine immer einheitliche, sozusagen „normierte“ Vergangenheitsform, die z. B. im Deutschen als -ie- erscheint (lief, riet, schied, rief, hielt). Ein Verbum wie nhd. bleiben müsste lautgesetzlich eigentlich *bleifen heißen; es scheint jedoch so, als sei das -b- aufgrund des Vernerschen Gesetzes, also aus *lip-ó-, entstanden und dann eine Normierung des Wurzelvokalismus zu lei̯p-ó- eingetreten. Eine Normierung liegt auch in den paradigmatischen Formen des lat. Verbums iungō ‚ich verbinde‘ vor (also etwa Perfekt iūnxῑ und PPP iūnctum (dieses statt *iuctum; das Nasalinfix gehört ursprünglich nur in den Präsensstamm)); eine solche Normierung ist nicht zwingend erforderlich (zu vincō ‚ich siege‘ lauten das Perfekt immer nur vῑcῑ und das PPP immer nur victum, wohl zur beständigen Unterscheidung von Perfekt und PPP des Verbums vincῑre ‚fesseln‘).
Komplettierung: Die Komplettierung steht in engem Zusammenhang mit der Paradigmenspaltung; beispielshalber werden aus lautgesetzlich entstehenden Paradigmen wie Bett_Beetes oder Schmitt_Schmiedes beide Formen jeweils zu geneuerten Paradigmen Bett_Bettes / Beet_Beetes bzw. Schmitt_Schmitts (Name) / Schmied_Schmiedes (Berufsbezeichnung) aufgebaut und zu neuen Paradigmen vervollständigt. Der Vorgang wird, wie hier gezeigt, häufig für Bedeutungsdifferenzierungen ausgenutzt.
Kontaminierung: Neben bereits eingebürgerten „künstlichen“, bisweilen aber auch „spontanen“ Misch-Wortschöpfungen wie Brunch (breakfast + lunch), schrimpfen (schreien + schimpfen) oder sich privilieren (profilieren + privilegieren) wird das Mittel der Kontaminierung häufig bewusst bei der Schaffung z. B. von Firmenbezeichnungen, Produktnamen oder Nahrungsmittel-Erzeugnissen eingesetzt.
Schnellsprechform: Als Beispiel für eine solche wird lat. ambulāre ‚herumlaufen, spazieren gehen‘, das sich zu frz. aller ‚gehen‘ entwickelt, angeführt.
Abkürzung: Ein Ausdruck wie North Atlantic Treaty Organization kann sich natürlich nicht lautgesetzlich zu ['na:to] entwickeln; hier greift der Mensch (wie auch häufig bei der Kontaminierung) bewusst in seine Sprache ein.
Die Anzahl solcher zusätzlich angenommener „Analogien“ sollte möglichst gering sein. Das Prinzip der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze zwingt den Sprachwissenschafter, beim Vorliegen vermeintlicher „Analogien“ nicht vorschnell aufzugeben, sondern immer wieder neu zu versuchen, vielleicht doch für ein bestimmtes Problem eine strikt lautgesetzliche Lösung zu finden.
Literatur
- Oswald Szemerényi: Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. In: Die Sprachwissenschaft. 4. durchgesehene Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, ISBN 3-534-04216-6 (hier siehe besonders S. 22–23 zu den Lautgesetzen und S. 28–30 zur Analogie).
- Harald Wiese: Eine Zeitreise zu den Ursprüngen unserer Sprache. Wie die Indogermanistik unsere Wörter erklärt. Logos Verlag, Berlin 2007.
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