Die Historischen Hilfswissenschaften (auch Historische Grundwissenschaften oder Geschichtliche Hilfswissenschaften [GHW]; in der Schweiz Historische Spezialwissenschaften) sind eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich damit beschäftigt, Quellen für die inhaltliche Auswertung aufzubereiten. Sie ermöglichen die Interpretation der Quellen, indem sie diese in ihrer Materialität erschließen und die darin enthaltenen Informationen in aktuell verständliche Kontexte einordnen. Dafür werden, je nach Kontext, eine Reihe ganz unterschiedlicher Einzelfächer herangezogen.
Begriff und ‚Kanon‘
Als ‚historische Hilfswissenschaft‘ kann grundsätzlich jede wissenschaftliche (Teil-)Disziplin bezeichnet werden, deren Ergebnisse für historische Forschungen genutzt werden können (zum Beispiel die Physik, wenn die Radiokarbonmethode für Datierungen genutzt wird). Als ‚Historische Hilfswissenschaften‘ im engeren Sinne hingegen wird eine Gruppe von historischen Disziplinen bezeichnet, die insbesondere Paläographie, Diplomatik, Heraldik, Sphragistik, Numismatik und Chronologie umfasst.Aktenkunde, Genealogie und (Historische) Geographie, die ebenfalls oft zu den Historischen Hilfswissenschaften dazugezählt werden, spielen in der universitären Geschichtswissenschaft seit langem keine bedeutende Rolle.
Dieser ‚Kanon‘ (der im einzelnen stark variiert) hat sich im 19. und 20. Jahrhundert vor allem in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft etabliert; er ist geprägt von den Themen, Methoden und bevorzugten Quellengattungen der historischen Forschung des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Am deutlichsten ist der Kanon von der Universalgeschichte der Aufklärungszeit einerseits und der Erforschung mittelalterlicher Herrscher- und Papsturkunden im Rahmen der politischen und Kirchengeschichte andererseits beeinflusst.
Der Begriff der ‚Historischen Hilfswissenschaften‘ hat sich im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert etabliert. Als Vorläufer kann die Bezeichnung von Fächergruppen (darunter meist Diplomatik, Chronologie und Geographie) als ‚auxilia‘ und ‚Hülfswissenschaften‘ gelten, die sich in geschichtswissenschaftlichen Werken des 18. Jahrhunderts findet.Benjamin Hederich zählte 1709 Geographie, Chronologie, Genealogie, Heraldik, Universalgeschichte, Literargeschichte (Notitia auctorum), Altertumskunde und antike Mythologie zu den (wie es im Buchtitel hieß) „fürnehmsten historischen Wissenschaften“;Anselm Desing fasste 1733 „Geographie, Politica, Chronologia, Kriegs-Weesen und anderen […] zur Historie zu wissenden Dingen“ als auxilia historica zusammen;Johann Christoph Gatterer, der die Hilfswissenschaften durch Forschung, Lehre und die Gründung eines eigenen Instituts an der Universität Göttingen etablierte, nannte in seinem Handbuch der Universalhistorie namentlich Chronologie, Geographie, Heraldik, Numismatik und Diplomatik die „historischen Hülfswissenschaften“.
Seit dem 20. Jahrhundert wurde wiederholt diskutiert, ob „Hilfswissenschaften“ oder „Grundwissenschaften“ als Fächerbezeichnung zu bevorzugen sei. Die Bezeichnung ‚Hilfswissenschaften‘ kann als abwertend missverstanden werden, aber auch den „funktionalen Zusammenhang“, also den besonderen Nutzen dieses Forschungsgebietes für die historische Forschung, hervorheben.
Gemeinsamkeiten, Erweiterungen und Veränderungen des traditionellen Kanons
Eine wichtige Gemeinsamkeit fast aller Historischer Hilfswissenschaften ist die unmittelbare Auseinandersetzung mit schriftlichen und vor allem auch nichtschriftlichen historischen Quellen, oft unter Berücksichtigung der Materialität der Überlieferungsträger. Zu den Aufgaben der Hilfswissenschaften gehört die Quellenkritik (vor allem Echtheitskritik, Datierung, Lokalisierung) und allgemeiner die Erschließung von Quellen für die weitere Forschung. Typische Produkte hilfswissenschaftlicher Forschungen sind daher Kataloge (zum Beispiel von Handschriften oder Münzen) und Vorarbeiten zu kritischen Editionen. Darin und in der propädeutischen Funktion im Studium wird meist der Wert der Historischen Hilfswissenschaften für die allgemeine Geschichtswissenschaft gesehen.
Diese Funktion innerhalb der historischen Lehre und Forschung insgesamt steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zur traditionellen Ausrichtung vor allem an den Anforderungen der Mittelalterforschung. In der Praxis wird dies meist dadurch ausgeglichen, dass auch andere Epochen im Rahmen der traditionellen Fächer berücksichtigt werden oder dass der Kanon um weitere Teildisziplinen ergänzt wird:
- Viele Teildisziplinen sind nicht auf das Mittelalter begrenzt, da die entsprechenden Quellen auch aus der Antike (Numismatik), der Neuzeit (Heraldik) oder beiden Epochen (Paläographie) vorliegen.
- Für die Bedürfnisse der althistorischen Forschung ist die Ergänzung des Kanons um Epigraphik und Papyrologie besonders wichtig.
- Die Aktenkunde, die speziell für die Erforschung der neuzeitlichen Geschichte wichtig ist, wird oft zum engeren Kanon hinzugezählt.
Darüber hinaus gab und gibt es viele weitere (Teil-)Disziplinen, die zumindest gelegentlich zu den Historischen Hilfswissenschaften gezählt werden, darunter Historische Metrologie, Kodikologie und Realienkunde.
Dabei ist die Paläographie von allen Historischen Hilfswissenschaften in der Lehre die bei weitem wichtigste; sie ist die einzige Hilfswissenschaft, die an vielen Universitäten und allen Archivschulen regelmäßig in der Lehre angeboten wird.
Geschichte der Disziplin
Als Beginn der Historischen Hilfswissenschaften gilt oft die Entwicklung der Diplomatik durch Gelehrte wie Daniel Papebroch und vor allem Jean Mabillon im 17. Jahrhundert; sie entwickelten wissenschaftliche Methoden der Quellenkritik (unter anderem Echtheitskritik, Datierungsfragen) und legten die ersten Lehrbücher vor. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde ein dem späteren Kanon ähnliches Bündel von Fächern als Teil der universitären Geschichtswissenschaft etabliert, wobei die einzelnen Disziplinen oft bereits in anderen Kontexten entstanden waren und weiterhin auch außeruniversitär betrieben wurden. Die Entwicklung der Historischen Hilfswissenschaften in dieser Zeit ist eng mit Johann Christoph Gatterer und der aufklärerischen Universalgeschichte verbunden.
Die prägende Phase der Historischen Hilfswissenschaften waren das 19. und frühe 20. Jahrhunderts; die Verwissenschaftlichung des Fachs Geschichte, der Aufstieg der Mittelalterforschung, der Ausbau der Universitäten und anderer Bildungseinrichtungen sowie der Erfolge der Editionsphilologie prägten das Fach und trugen zum Aufstieg und zur Institutionalisierung auch der Hilfswissenschaften bei. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Historischen Hilfswissenschaften vor allem im deutschsprachigen Raum durch entsprechende Professuren und Studiengänge an vielen Universitäten vertreten. Auch an Archivschulen und außeruniversitären Einrichtungen (Archivschule Marburg, École des chartes, IÖG, MGH) waren seither wichtige Orte der Forschung und Lehre in diesen Bereichen. Die Einrichtung eigener Lehrstühle bedeutete eine starke Aufwertung des Fachs innerhalb der akademischen Geschichtswissenschaft. Vielerorts wurden Lehre und Forschung im hilfswissenschaftlichen Bereich aber auch von Privatdozenten und außerordentlichen Professoren (zum Beispiel Philipp Jaffé in Berlin) geleistet; statt eigener Professuren für Hilfswissenschaften wurde die Denomination eines Lehrstuhls, meist desjenigen für mittelalterliche (seltener alte) Geschichte, entsprechend erweitert.
Im 20. Jahrhundert ging die Bedeutung der Historischen Hilfswissenschaften an den Universitäten insgesamt zurück. Gleichzeitig wurden Methoden und auch Ergebnisse der entsprechenden Forschung (v. a. Diplomatik und Paläographie) in die allgemeine Mittelalter-Forschung integriert. Auch an Universitäten, an denen es keine eigenen oder gar keine Professuren für Historische Hilfswissenschaften gab, wurde diesen eine propädeutische Funktion im allgemeinen Geschichtsstudium zugesprochen. Für entsprechende Lehrveranstaltungen wurde Ahasver von Brandts Standardwerk Werkzeug des Historikers bis ins frühe 21. Jahrhundert stark genutzt.
Anfang des 21. Jahrhunderts ist die institutionelle Verankerung der Historischen Hilfswissenschaften an den deutschen Universitäten deutlich geschwächt; die Zahl der Professuren und Studiengänge ist stark gesunken, ebenso der hilfswissenschaftliche Anteil am Geschichtsstudium und an den Lehrgängen der Archivschulen. Umgekehrt haben Historische Hilfswissenschaften sich stärker als andere historische Teildisziplinen mit den Digital Humanities verbunden.
Die deutsche Hochschulpolitik stuft die Historischen Hilfs- bzw. Grundwissenschaften als Kleines Fach ein (siehe auch Liste der Kleinen Fächer). Eine deutschlandweite Kartierung der Professuren findet sich bei der Arbeitsstelle Kleine Fächer. Im Hauptfach können Historische Hilfswissenschaften nur noch an sehr wenigen Universitäten studiert werden.
Literatur
- Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (= Kohlhammer-Urban-Taschenbücher. Bd. 33). 18. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-17-022245-8.
- Robert Delort: Introduction aux sciences auxiliaires de l’histoire (= Collection U – Série Histoire médiévale). Colin, Paris 1969.
- Toni Diederich, Joachim Oepen (Hrsg.): Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung. Böhlau, Köln u. a. 2005, ISBN 3-412-12205-X (nur Diplomatik, Sphragistik, Heraldik, Genealogie, Numismatik).
- Eckart Henning: Auxilia historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 3. Auflage. Böhlau, Köln u. a. 2015, ISBN 978-3-412-22430-1.
- Hiram Kümper: Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (= UTB. Bd. 8605). Schöningh, Paderborn 2014, ISBN 978-3-8252-8605-7.
- Patrick Reinard (Hrsg.): Werkzeuge der Historiker:innen: Antike. Kohlhammer, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-17-040102-0.
- Christian Rohr: Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung (= UTB. Bd. 3755). Böhlau, Wien u. a. 2015, ISBN 978-3-8252-3755-4.
- Peter Rück: Historische Hilfswissenschaften nach 1945. In: Peter Rück (Hrsg.): Mabillons Spur. Zweiundzwanzig Miszellen aus dem Fachgebiet Historische Hilfswissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Zum 80. Geburtstag von Walter Heinemeyer. Institut für Historische Hilfswissenschaften, Marburg an der Lahn 1992, ISBN 3-8185-0121-1, S. 1–20.
- Thomas Wozniak (Hrsg.): Werkzeuge der Historiker:innen. Bd. 2: Mittelalter. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2024, ISBN 978-3-17-040954-5.
Anmerkungen
- Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (= Kohlhammer-Urban-Taschenbücher. Bd. 33). 18. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-17-022245-8, Kapitel 1: Der Begriff der Historischen Hilfswissenschaften.
- Eckart Henning: Begriffsplädoyer für die Historischen ‚Hilfs‘wissenschaften. In: Auxilia historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 3. Auflage. Böhlau, Köln u. a. 2015, ISBN 978-3-412-22430-1, S. 26–38.
- Hans-Werner Goetz: Proseminar Geschichte: Mittelalter. 4. Auflage. Ulmer, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-8252-4066-0, doi:10.36198/9783838540665, S. 288–319.
- Thomas Wozniak: Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften des Mittelalters. In: Thomas Wozniak (Hrsg.): Werkzeuge der Historiker:innen. Bd. 2: Mittelalter. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2024, ISBN 978-3-17-040954-5, S. 10–19, hier vor allem S. 12–13.
- Reinhard Härtel: Sind die Historischen Hilfswissenschaften noch zeitgemäß?, in: Hans-Werner Goetz (Hg.): Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung. Schönigh, Paderborn 2003, S. 379–389.
- Stefan Jordan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. UTB-Schöningh, Paderborn 2009. 5., aktualisierte Auflage 2021, ISBN 978-3-8252-5760-6, doi:10.36198/9783838540665, S. 33–37.
- Johannes Burkardt: Die Historischen Hilfswissenschaften in Marburg (17.-19. Jahrhundert). Marburg 1997 (= elementa diplomatica. Band 7).
- Eckart Henning: Die Historischen Hilfswissenschaften – historisch gesehen! In: Auxilia historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 3. Auflage. Böhlau, Köln u. a. 2015, ISBN 978-3-412-22430-1, S. 43–55.
- Benjamin Hederich: Anleitung zu den fürnehmsten historischen Wissenschaften [...], Berlin und Zerbst 1709. Digitalisat.
- Anselm Desing: Historia Auxilia, Historischer Behülff und Unterricht [...]. Stadt am Hoff 1733. Digitalisat.
- Johann Christoph Gatterer: Handbuch der Universalhistorie nach ihrem gesamten Umfange von Erschaffung der Welt bis zum Ursprunge der meisten heutigen Reiche und Staaten [Band 1], Göttingen 1733. Digitalisat.
- Patrick Reinard: Einführung in die Historischen Grundwissenschaften der Antike. In: Derselbe (Hrsg.): Werkzeuge der Historiker:innen: Antike. Kohlhammer, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-17-040102-0, S. 10–31, hier S. 11, sowie die abweichende Einschätzung in der Rezension von Roland Färber (Bryn Mawr Classical Review 2024.02.38).
- Gabriele Lingelbach, Harriet Rudolph: Geschichte studieren. Eine praxisorientierte Einführung für Historiker von der Immatrikulation bis zum Berufseinstieg. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, ISBN 3-531-14557-6, S. 110 (dort das Zitat)
- Eckart Henning: Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und irher weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert. In: Auxilia historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 3. Auflage. Böhlau, Köln u. a. 2015, ISBN 978-3-412-22430-1, S. 121–143.
- Heinrich Fichtenau: Zur Lage der Diplomatik in Österreich. In: Heinrich Fichtenau: Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte Aufsätze, Zweiter Band: Urkundenforschung. Hiersemann: Stuttgart 1977, S. 1–17.
- Bernhard Jussen: Vorboten der Irrelevanz. Wie befreit man das Wort ‚Mittelalter‘ von seinem Begriff – und warum? In: Jan-Hendryk de Boer/Marcel Bubert/Katharina Ulrike Mersch (Hrsg.): Die Mediävistik und ihr Mittelalter. De Gruyter, Berlin/Boston 2024, S. 179–200, hier S. 180. doi:10.1515/9783111216140-008
- Vorwort. In: Thomas Wozniak (Hrsg.): Werkzeuge der Historiker:innen. Bd. 2: Mittelalter. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2024, ISBN 978-3-17-040954-5, S. 7–9
- Theo Kölzer: Die Historischen Hilfswissenschaften – gestern und heute. In: Archiv für Diplomatik, Band 54, 2008, S. 205–222. doi:10.7788/AfD.2008.54.JG.205
- Claudia Märtl: Zur aktuellen Lage der historischen Grundwissenschaften. In: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde Band 65, 2019, S. 187–202. doi:10.7788/9783412517021.187
- Arbeitsstelle Kleine Fächer: Historische Hilfswissenschaften auf dem Portal Kleine Fächer, abgerufen am 5. September 2025.
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