Johanna Gezina van Gogh-Bonger (* 4. Oktober 1862 in Amsterdam; † 2. September 1925 in Laren (Noord-Holland)) war eine niederländische Kunstsammlerin und Schwägerin von Vincent van Gogh. Als Ehefrau von Theo van Gogh erbte sie 1891 den Nachlass von Theo und Vincent van Gogh. Indem sie Ausstellungen organisierte und den Briefwechsel der Brüder van Gogh herausgab, machte sie das Werk Vincent van Goghs international bekannt.
Leben
Die Tochter des Versicherungsagenten Hendrik C. Bonger studierte Englisch und arbeitete für einige Monate in der Bibliothek des British Museum in London. Sie wuchs nach späterer Darstellung in einem bürgerlich-strengen Milieu auf, in dem Zurückhaltung und eine ausgeprägte Vorstellung von „Anstand“ betont wurden. In diesem Umfeld seien emotionale Distanz und Bescheidenheit als Tugenden vermittelt worden, was auch ihr Selbstbild prägte. Mit 22 Jahren wurde sie Lehrerin für Englisch am Mädcheninternat von Elburg. Später unterrichtete sie an der Höheren Mädchenschule in Utrecht. Sie begegnete Theo van Gogh bereits Mitte der 1880er-Jahre und reagierte zunächst zurückhaltend auf dessen Werbung um sie. Theo van Gogh soll ihr demnach nach sehr kurzer Bekanntschaft einen Heiratsantrag gemacht haben, den sie zuerst ablehnte. Durch ihren Bruder Andries, der nach seinem Schulabschluss nach Paris gegangen war und sich dort in Künstlerkreisen unter anderem mit Odilon Redon angefreundet hatte, lernte sie Theo van Gogh kennen, den sie 1889 heiratete. Sie willigte nach längerer Zeit schließlich in die Ehe ein, auch weil sie sich ein Leben in einem kulturell anregenden Umfeld erhoffte. Das Paar lebte nach der Heirat in Paris, wo Jo van Gogh-Bonger (so ihre Selbstbezeichnung) die Kunst- und Theaterwelt der Belle Époque aus unmittelbarer Nähe erlebte. Theo van Gogh wird dort als Kunsthändler beschrieben, der besonders mit jüngeren, gegen akademische Normen auftretenden Künstlern arbeitete und damit in der Avantgarde-Szene vernetzt war. Nach dieser Darstellung begegnete sie in diesem Umfeld auch Künstlern wie Paul Gauguin, Camille Pissarro und Henri de Toulouse-Lautrec.
Die Pariser Wohnung des Ehepaars war zugleich mit Gemälden Vincent van Goghs gefüllt, die fortlaufend aus dessen Aufenthaltsorten an Theo geschickt wurden. Die intensive Nähe zu diesen Arbeiten habe van Gogh-Bonger früh zu einer eigenständigen Auseinandersetzung mit moderner Malerei geführt, obwohl sie keine formale Ausbildung in Kunstgeschichte oder Kunsthandel besaß. Als sie einen Sohn zur Welt brachte, erhielt dieser den Namen Vincent auf Wunsch des Vaters. Im Frühjahr 1890 begegnete sie Vincent van Gogh in Paris persönlich und beschrieb ihn später als körperlich robust und entschlossen wirkend, was ihren Erwartungen widersprochen habe.
Nach dessen Tod 1891 kehrte sie mit dem gemeinsamen Sohn Vincent Willem und einer großen Bildersammlung, zu der Werke von Adolphe Monticelli und Paul Gauguin, vor allem aber die nachgelassenen Werke Vincent van Goghs gehörten, nach Bussum in Holland zurück. Die New York Times beziffert den Nachlass, den sie in dieser Phase verwaltete, auf rund 400 Gemälde sowie mehrere hundert Zeichnungen Vincent van Goghs. Ratschläge, sich von dieser Sammlung weitgehend unbekannter Künstler zu trennen, lehnte sie ab. Sie entschied sich bewusst dafür, die Werke physisch bei sich zu behalten, obwohl ihr aus dem Künstlerumfeld nahegelegt worden sei, die Pariser Kunstszene als Verkaufsbasis zu nutzen. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie unter anderem als Betreiberin einer Pension und Übersetzerin aus dem Französischen und Englischen. Sie nahm nach der Rückkehr in die Niederlande auch ihre seit der Jugend geführten Tagebücher wieder auf, in denen sie neben Selbstzweifeln ihr Ziel formulierte, ihrem Leben einen „größeren“ Zweck zu geben. In dieser Zeit habe sie die geerbten Briefe der Brüder van Gogh systematisch gelesen und darin sowohl biografische Details als auch kunsttheoretische Selbstdeutungen Vincent van Goghs als Schlüssel zum Verständnis der Bilder betrachtet.
Im Jahr 1894 schloss sie sich der sozialdemokratischen SDAP an, in der auch ihr Bruder Willem Adriaan Bonger aktiv wurde. Sie verband ihr Engagement in sozialen Reformbewegungen auch mit der Vorstellung, Kunst solle über ein exklusives Publikum hinauswirken. 1901 heiratete sie den Maler Johan Cohen Gosschalk (1873–1912). 1903 zog die Familie nach Amsterdam. Sie war zeitweise auch in eine Beziehung zu Isaac Israëls involviert, die sie beendete, als sich ihre Vorstellungen über eine verbindliche Lebensplanung nicht erfüllten.
Mit dem Ziel, das Werk Vincent van Goghs bekannter zu machen, organisierte Johanna Bonger sorgfältig ausgewählte Ausstellungen, die sie zum Teil selbst finanzierte. Dem ging eine Phase intensiver Selbstbildung in Kunstkritik und zeitgenössischen Debatten über moderne Kunst voraus, die sie als Grundlage ihrer Vermittlungsarbeit nutzte. Sie suchte nach früh den Kontakt zu einflussreichen Kritikern und Künstlern, um eine erste Rezeption Vincent van Goghs im niederländischen Kunstleben anzustoßen. Als besonders wichtig wird dabei die Ansprache des Kunstkritikers Jan Veth sowie des Künstlers Richard Roland Holst beschrieben, die zunächst ablehnend reagiert hätten, sich dann aber zur Unterstützung bereitfanden. Roland Holst wirkte an einer der frühen Einzelausstellungen mit, die bereits Anfang der 1890er Jahre in Amsterdam stattfanden. Ein Höhepunkt war dabei eine von ihr finanzierte große Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam 1905, auf der 457 Werke van Goghs gezeigt und 2000 Besucher gezählt wurden. Sie übernahm bei dieser Ausstellung viele organisatorische Details persönlich – von Einladungslisten bis zu praktischen Abläufen vor Ort – und band ihren Sohn in die Vorbereitung ein. Bereits 1901/2 hatten die Galeristen Bruno und Paul Cassirer eine erste Van-Gogh-Ausstellung in Berlin organisiert. Mit Hilfe Paul Cassirers fanden Ausstellungen unter anderem in den Sezessionen in München und Berlin sowie im Folkwang-Museum Hagen (1912) statt. Werke van Goghs standen im Mittelpunkt der Kölner Sonderbund-Ausstellung 1912. Nach einer ersten Ausstellung in den USA 1913 folgten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs weitere erfolgreiche Ausstellungen in Paris, New York und London. Von 1916 bis 1919 lebte Johanna Bonger bei ihrem Sohn in New York. Sie sah den Schritt in die Vereinigten Staaten auch als gezielte Kampagne, weil sie dort eine langsamere Anerkennung Vincent van Goghs wahrnahm. In New York habe sie nach dieser Darstellung Netzwerke aufgebaut, mit Galeristen verhandelt und Ausstellungen unterstützt, um den Künstler im US-amerikanischen Kunstbetrieb sichtbarer zu machen. Es gab auch Kontakte zur Galerie des Kunsthändlers Newman Emerson Montross sowie Leihgaben für Ausstellungszusammenhänge, in denen van Gogh neben anderen Postimpressionisten präsentiert wurde.
Die Bedeutung Johanna Bongers bei der Popularisierung der Kunst Vincent van Goghs wird zunächst darin gesehen, dass sie beinahe über das gesamte Lebenswerk des Künstlers verfügen konnte. Sie agierte in einem Kunstmarkt, der stark männlich dominiert war, und musste sich ohne formale Branchenlaufbahn Autorität verschaffen. Sie unterhielt Kontakte zu Kunsthändlern, musste aber keine Gemälde aus finanziellen Gründen verkaufen. Deshalb konnte sie hohe Preise verlangen und die Verkäufe kontrollieren. Tatsächlich verkaufte sie einige der besten Werke bewusst nicht, sondern ließ sie nur in Ausstellungen zeigen. Sie nutzte dabei eine Strategie, herausragende Arbeiten als Leihgaben zu präsentieren, um die Nachfrage nach verkäuflichen Werken im selben Kontext zu steigern. Sie setzte diese Form der „kontrollierten“ Platzierung über zahlreiche Ausstellungen hinweg wiederholt ein. Damit hielt sie eine Sammlung in Familienbesitz, die später den Grundstock des Amsterdamer Van Gogh Museums bilden sollte. Zu den prominenten Beispielen ihres Umgangs mit einzelnen Bildern gehört auch Sternennacht, das sie zunächst nicht in frühe Präsentationen aufgenommen, später verkauft und in den folgenden Jahren erneut als Leihgabe in Ausstellungen eingebunden hat. Das Werk gelangte nach späteren Stationen in den Bestand des Museum of Modern Art und wurde damit früh Teil einer großen New Yorker Museumssammlung.
Johanna Bonger sammelte, ordnete und edierte außerdem den Briefwechsel zwischen Theo und Vincent van Gogh (1914) und besorgte auch eine englische Ausgabe. Eine erste Auswahl hatte Bruno Cassirer bereits 1906 veröffentlicht. Die Publikation der Briefe trug wesentlich zur großen Bekanntheit van Goghs bei. Sie verstand die Briefe nicht nur als Dokumente, sondern als zentrales Mittel, um Werk und Biografie in der öffentlichen Wahrnehmung eng miteinander zu verknüpfen. Sie wies Kritiker gezielt auf Passagen der Korrespondenz hin, um deren Deutung der Gemälde zu beeinflussen und Empathie für den Künstler zu erzeugen. Bongers biographische Einleitung prägte dabei die Wahrnehmung Vincent van Goghs als eines zu Lebzeiten nicht anerkannten Genies. Später wurde Bongers Editionspraxis kritisiert, da sie nur eine Auswahl des gesamten Briefwechsels ediert hatte. Die Vorbereitung einer umfassenden englischen Ausgabe blieb bis in ihre letzten Lebensjahre ein zentrales Ziel, wobei sie sich gegen Pläne für eine stark gekürzte Veröffentlichung wandte. Ihre Gesundheit war in den 1920er-Jahren durch eine Parkinson-Erkrankung beeinträchtigt, sie begleitete aber weiterhin Ausstellungen und trieb publizistische Projekte voran.
Sie veranlasste überdies, dass Theo van Goghs sterbliche Überreste später in Auvers-sur-Oise neben Vincent van Gogh umgebettet wurden, um die Brüder auch im Tod räumlich zu verbinden.
Nachwirkung
Nach ihrem Tod blieb ein großer Kernbestand der von ihr bewahrten Werke in der Familie und wurde zunächst von ihrem Sohn verwaltet. Ihr Sohn führte in den 1950er-Jahren Verhandlungen mit dem niederländischen Staat, um für die Sammlung eine dauerhafte öffentliche Institution zu schaffen. Die Werke wurden in eine Stiftungskonstruktion überführt und das spätere Van Gogh Museum als Fortsetzung von van Gogh-Bongers Vermittlungsprojekt wurde gebaut.
Schriften
- Vincent van Gogh. Brieven aan zijn Broeder. Uitgegeven en toegelicht door zijn schoonzuster J. van Gogh-Bonger., Amsterdam 1914.
- J. van Gogh-Bonger: Einleitung, in: Vincent van Gogh. Briefe an seinen Bruder. Zusammengestellt von seiner Schwägerin J. van Gogh-Bonger. Ins Deutsche übertragen von Leo Klein-Diepold, Übersetzung der französischen Briefe Carl Einstein. 2 Bände. Cassirer, Berlin 1914, S. 5–49
- The letters of Vincent van Gogh to his brother, 1872-1886;. With a memoir by his sister-in-law, J. van Gogh-Bonger …. Constable & Co.; Houghton Mifflin Co., London, Boston, New York 1927.
- Kort geluk : de briefwisseling tussen Theo van Gogh en Jo Bonger. Van Gogh Museum. Waanders, Zwolle 1999.
Literatur
- Vincent Willem van Gogh: In Memoriam J. van Gogh Bonger. In: The letters of Vincent van Gogh to his brother, 1872-1886; with a memoir by his sister-in-law, J. van Gogh-Bonger. Bd. 1. Constable, London 1927, S. lxv-lxxii.
- Hans Luijten: Alles voor Vincent. Het leven van Jo van Gogh-Bonger. Prometheus, Amsterdam 2019, ISBN 978-90-446-4166-0.
- deutschsprachige Ausgabe: Jo van Gogh-Bonger. Die Frau, die Vincent van Gogh berühmt machte., aus dem Niederländischen von Gerd Busse und Christiane Burkhardt, WBG Theiss im Verlag Herder 2025, ISBN 978-3-534-61055-6.
- Irene Meyjes: Johanna van Gogh-Bonger: Kunsthandelaar? Scriptio, Deventer 2007.
- Belletristik
- Camilo Sánchez: Die Witwe der Brüder van Gogh. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2014, ISBN 978-3-293-00477-1
- Simone Meier: Die Entflammten. Roman. Kein & Aber, Zürich 2024, ISBN 978-3-0369-5029-7
Dokumentation
- Van Gogh - Zwei Monate und eine Ewigkeit. Regie: Anne Richard. ARTE F, Frankreich, 53 Minuten, 2022
wikipedia, wiki, enzyklopädie, buch, bibliothek, artikel, lesen, kostenlos herunterladen, Informationen über Johanna van Gogh-Bonger, Was ist Johanna van Gogh-Bonger? Was bedeutet Johanna van Gogh-Bonger?