Codex Hermogenianus

Der Codex Hermogenianus (so die bezeugte Bezeichnung in Ostrom; in Westrom: Hermogenianus oder Corpus Hermogeniani, generell kurz: CH) war eine kompilierte Privatsammlung von Konstitutionen des römischen Kaisers Diokletian aus dem Jahr 295 n. Chr.

Der Codex, der auf den epiklassischen Juristen Hermogenian zurückgeführt wird, ist nicht unmittelbar überliefert, weshalb er aus späteren Rechtsquellen rekonstruiert werden musste. Er gehört an den Beginn der Spätantike und damit in die Zeit des sogenannten nachklassischen Rechts. Diokletian ließ das Werk noch zweimal neu auflegen, weil neue Rechtssätze aus dem Westen des Reichs eingebracht werden mussten.

Geschichte des Codex

Die Forschung geht davon aus, dass der Codex – zumindest in seiner großen Masse – durch Reskripte seines Herausgebers geprägt war, nicht ausgeschlossen wird, dass das Werk allein diokletianische Anordnungen enthielt. Reskripte waren Bescheide mit denen die kaiserliche Behörde Anträge von römischen Bürger beantwortete und beschied. Der Verfasser Hermogenian stand von 293 bis April 295 in den höchsten Diensten des Kaisers und übte für ihn den Vorsitz in seiner Libellkanzlei als magister libellorum aus.

Mit dem ebenfalls über Diokletian verfassten Codex Gregorianus, hatte das Werk sicherlich gemein, dass es fester Bestandteil der juristischen Ausbildungsliteratur war. Durch die Aufnahme im Codex, wurden die Anordnungen zu verbindlichen Konstitutionen und die Sammlung zum Rechtsbuch. Die Konstitutionen waren ohne Nennung des erlassenden Kaisers inskribiert, dafür unter Angabe des Namens des Adressaten. Überliefert ist, dass Theodosius II. sich auf den Codex als offizielle Rechtsquelle bezog. Beide Codizes unterlagen einer für die Spätantike typischen Ordnungs- und Sammelleidenschaft. Von besonderem Interesse waren immer die zuletzt promulgierten Vorschriften. Hermogenian folgte der Methode, sein Werk in etwa 100 Sachtitel zu gliedern und verzichtete dabei auf eine übergeordnete systematische Unterteilung in einzelne Bücher (libri). In der Forschung wird festgestellt, dass der Codex Hermogenianus weniger anspruchsvoll ist als sein Schwesterprojekt, der Codex Gregorianus. Bereits seinem Umfang nach, lag er gerade mal bei einem Drittel.

Grundsätzlich berücksichtigte der Codex Hermogenianus die Titelabfolge des vorangegangenen Schwesterprojekts. Hermogenian verknüpfte Rechtsmaterien teils so miteinander, dass sachlogisch eigentlich einander fremde Einzeltitel sich in einem Kombinationstitel einer Rubrik begegnen konnten. So schuf er den Gesamttitel De pactis et transactionibus. De pactis war ein tradierter Einzeltitel, der aus einem prätorischen Edikt stammte und materiell-rechtliche formfreie Vereinbarungen behandelte. Dieser wurde sodann mit dem erstmals im Codex Gregorianus aufgekommenen Einzeltitel De transactionibus zusammengefasst, welcher im Gegenteil, an rechtliche Formen gebundene, Rechtsgeschäfte behandelte – insbesondere zu deren Begründungsakt. In der Forschung wird allerdings vermutet, dass die Materien aus bisher nicht nachvollzogenen Gründen wohl nicht aufteilbar gewesen sein müssen und sich ein derartiges Vorgehen daher aufdrängte. Auch diejenigen Titel, die den Problemkreis schikanöser Klagen zum Inhalt hatten, bereiten Mühen bei der Einordnung, denn sie werden mit dem bereicherungsrechtlichen Komplex der Zuvielforderungen zu einem Gesamttitel De calumniatoribus et plus petendo verschmolzen. Soweit die Systematik des Hochklassikers Gaius, ausweislich dessen Institutionen, derart unterschiedliche Titelinhalte noch klar differenzierte und diese auch gestaltungssystematisch weit auseinanderlegte, so wurde diese Trennschärfe bei Hermogenian aufgehoben.

Bei der Bündelung sachgleicher Themen entwickelte Hermogenian hingegen durchaus dogmatischen Spürsinn. Den auf etwa zehn Einzeltitel sich verteilenden gregorianischen Katalog über die Gerichtsstände verkürzte er auf lediglich einen. Auch die prätorischen Bereicherungsklagen, das Deliktsrecht oder rechtshängige Bußansprüche verkürzte er (Titel: Ex delictis defunctorum quemadmodum conveniantur successores).

Entwicklungen in der Folgezeit

Im Gegensatz zum Codex Gregorianus bzw. Codex Iustinianus, wurde und wird der Codex Hermogenianus in dogmatischer und systematischer Hinsicht als eher unbefriedigendes Werk bewertet, was auch für den Codex Theodosianus gilt. Die Verfasser der Digesten schlossen sich daher der Systemlogik der beiden erstgenannten Werke an. Im Codex Iustinianus fand der Hermogenianus allerdings mittelbaren Niederschlag, denn dieser war Bestandteil der Lex Romana Visigothorum geworden. Auch soll, nach Auskunft des aus Rom stammenden Dichters Sedulius, Hermogenian in den Jahren 306 und 319, möglicherweise auch 320, Neuausgaben des Codex bewirkt haben. Das Material dazu dürfte er aus den Archiven des Ostens bezogen haben. Unklar bleibt, was die Neuauflagen mit sich brachten. Indiziell kann herangezogen werden, dass der Codex Theodosianus (313) für die Nachwelt die Ausschaltung des Kaisers Maxentius in rechtlicher Konsequenz thematisiert, ebenso die radikale Tilgung licinischer Konstitutionen. Weil aber der Codex Iustinianus licinische Inskriptionen aus den Jahren 314 bis 319 aufweist, wird festgehalten, dass der Codex Theodosianus als Quelle nicht nur definitiv ausscheidet, sondern nahelegt, dass Hermogenian in seiner Neuauflage von 306 tüchtig und später sporadisch nachgetragen haben muss.

Weiterverarbeitungen der im Codex enthaltenen Buchauszüge der ulpianischen Ad Sabinus libri LI – sie richteten sich an den Begründer der Rechtsschule der Sabinianer, Masurius Sabinus (1. Jahrhundert) – finden sich in den der Lehranstalt von Beirut zugeordneten Scholia Sinaitica. Der Codex Hermogenianus soll zudem maßgebenden Einfluss auf den Inhalt der Sententiae Syriacae gehabt haben. Neben dreiundzwanzig Reskripten aus dem Codex Gregorianus fanden zwei hermogenianische Reskripte Einlass in die Lex Romana Visigothorum des tolosanischen Königs Alarich. Zehn der gregorianischen und beide hermogenianischen Reskripte wurden dabei mit einer Auslegungsanleitung (interpretatio) versehen, die ursprünglich der Erläuterung der klassischen Rechtstexte diente und heute überdies Aufschlüsse über Bedeutung und Inhalt des spätantiken römischen Rechts gibt.

Verbreitung

Nicht so stark wie der Codex Gregorianus, gleichwohl nachspürbar, gibt es Rezeptionen des Codex Hermogenianus in verschiedenen Reichsprovinzen. Im 5. und 6. Jahrhundert lassen sich sechs Meldungen über den Codex im gallischen Raum nachweisen, eine sogar aus dem 9. Jahrhundert. Im italischen Raum wird er zwischen 300 und 500 viermal erwähnt, in Africa einmal und im römischen Osten im 5. und 6. Jahrhundert zudem siebenmal.

Ausgaben

  • Gustav Friedrich Hänel: Codicis Gregoriani et codicis Hermogeniani fragmenta (Corpus iuris Romani anteiustiniani consilio professorum Bonnensium) (sog. Bonner Corpus iuris). Band II, Marcus 1837, S. 3 ff.
  • Paul Krüger: Collectio librorum juris antejustiniani in usum scholarum. Weidmann, Berlin 1878, Titel Band III: Fragmenta Vaticana Mosaicarum et Romanarum legum collatio; Consultatio veteris cuiusdam iurisconsulti codices Gregorianus et Hermogenianus alia minora, (archive.org), S. 230 ff.

Literatur

  • Max Conrat (Cohn): Zur Kultur des Römischen Rechts im Westen des Römischen Reiches im vierten und fünften Jahrhundert nach Christi, Mélanges Fitting I, Montpellier 1907, S. 289–320.
  • Gottfried Härtel, Frank-Michael Kaufmann (Hrsg.): Codex Justinianus. Leipzig, Reclam, 1991. ISBN 3-379-00530-4. S. 8 f.
  • Paul Jörs: Codex Hermogenianus. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band IV,1, Stuttgart 1900, Sp. 164–167.
  • Nicole Kreuter: Römisches Privatrecht im 5. Jh. n. Chr.: die Interpretatio zum westgotischen Gregorianus und Hermogenianus, zugleich: Dissertation, Universität Freiburg (Breisgau), 1990/91, Duncker & Humblot, Berlin 1993, ISBN 3-428-07551-X.
  • Detlef Liebs: Hermogenianus. In: Reinhart Herzog (Hrsg.): Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr. (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Band 5). C.H. Beck, München 1989, ISBN 3-406-31863-0, S. 62–64.

Anmerkungen

  1. Ausgezogen im Codex Theodosianus 1, 5, 5.
  2. Ausgezogen in einer Interlinearglosse zu den Fragmenta Vaticana 270 und der Collatio 6, 5; und 10, 3.
  3. Ausgezogen in der Consultatio 4, 9; 5, 6; 6, 10; 6, 12–14; 6, 18; 9, 1 und 9, 18.
  4. Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 137–143.
  5. Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 21 (S. 16 f.).
  6. Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Auflage 2001) (Böhlau-Studien-Bücher) ISBN 3-205-07171-9, S. 48–49 (49): Codex bezeichnet im Unterschied zur Papyrusrolle ein gebundenes Buch, das inhaltlich umfassend wiedergibt, äußerlich komprimiert ist und verbindliches Gesetzesmaterial sammelt.
  7. Codex Iustinianus 1, 50, 2 (so gegeben im Oktober 427 in Konstantinopel).
  8. Consultatio veteris cuiusdam iurisconsulti 4, 9 und 6, 19.
  9. Lex Romana Visigothorum, CG 1.
  10. plus petito: Gaius 4, 53–60; calumnia: Gaius 4, 174–181.
  11. Codex Iustinianus 2, 3 und 4; zum CG siehe Lex Romana Visigothorum App. 1, 3 und Lex Romana Visigothorum CG 1,1; Digesten 2, 14/15.
  12. Codex Iustinianus 3, 1, 8; 6, 1, 3; 7, 16, 41 und 7, 22, 3.
  13. Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage. UTB, Köln/Wien 2005, § 12 (Das Recht der römischen Spätzeit, Kapitel 4, Die Renaissance des klassischen Rechts), S. 196.
  14. Walter Selb: „Sententiae Syriacae“. Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften - ÖAW, Band 567. Veröffentlichungen der Kommission für Antike Rechtsgeschichte, Band 7. Verlag der ÖAW. Wien 1990. ISBN 3-7001-1798-1. S. 189–192.
  15. Nicole Kreuter: Römisches Privatrecht im 5. Jh. n. Chr: Die Interpretatio zum westgotischen Gregorianus und Hermogenianus (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen), Duncker & Humblot, Berlin 1993, Einleitung.
  16. Detlef Liebs: Römische Jurisprudenz in Gallien (2. bis 8. Jahrhundert) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge. Band 38). Duncker & Humblot, Berlin 2002, ISBN 978-3-428-10936-4. S. 100 f.
  17. Fragmenta Vaticana schol. (266a; 272; 285 f.; 288).
  18. Stillschweigende Erwähnung in den hermogenianischen Epitomen
  19. Nachgewiesen in den pseudopaulinischen Sentenzen
  20. Codex Theodosianus 1, 1, 5 (429).

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